Gerade bei einem gänzlichen oder teilweisen Verlust eines Armes oder eines Beines schafft die Gliedertaxe eine einfache und objektivierbare Basis für die Entschädigung des Unfallversicherers. Dass dies auch anders sein kann, zeigt die Entscheidung OGH 7 Ob 190/21y vom 26.1.2022.
Redakteur/in: Andreas Richter - Veröffentlicht am 27.06.2022
Von Dr. Wolfgang Reisinger (Foto)
Der Versicherungsnehmer (VN) kam als Motorradfahrer zu Sturz. Infolge einer schweren Beinverletzung links musste das Bein knapp oberhalb der Oberschenkelmitte amputiert werden. Der VN trägt ein Oberschenkelkunstbein mit einem mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk und einem Fußteil aus Karbon. Unter Berücksichtigung der dem VN verbliebenen Funktionen, die zu einer gewissen Fähigkeit des Sitzens, des Liegens auf der linken Körperhälfte als auch zu Prothesentauglichkeit führen, wurde der Dauerschaden für das linke Bein mit 90% des Beinwerts festgelegt. Der VN behauptete, die Funktionsfähigkeit des linken Beins sei ohne Prothese zu beurteilen und bei der Ermittlung der Invaliditätsleistung sei daher der volle Beinwert anzusetzen. Die Klage des VN blieb in allen Instanzen erfolglos.
Entscheidungsgründe
Zu den natürlichen Aufgaben, die die Beine zu erfüllen haben, zählt im Wesentlichen die Fortbewegung. Die Prothesentauglichkeit des verbleibenden Gliederrestes dient daher der unmittelbaren Erfüllung dieser Aufgabe. Sie verbessert jedenfalls die Fortbewegungsmöglichkeiten gegenüber der Situation, eine Prothese nicht verwenden zu können und auf Krücken oder gar den Rollstuhl angewiesen zu sein, erheblich. Die dem Gliederrest verbleibende Prothesentauglichkeit bewirkt – gegenüber dem völligen Verlust des Gliedes – eine Verbesserung der Gebrauchsfähigkeit des Beines und damit der gesamten Lebenssituation des VN. Die einem Gliederrest verbleibende Prothesentauglichkeit hat einen geringeren Invaliditätsgrad zur Folge als der vollständige Verlust des Gliedes.
Kommentar
Es geht hier um die durchaus interessante Frage, ob bei einem Verlust des Beines eine verbleibende Prothesentauglichkeit den in der Gliedertaxe vorgesehenen Prozentsatz vermindert. Der Unterschied zwischen 90% des Beinwerts und vollem Beinwert beträgt hier immerhin 35.000 Euro. In der Amputationschirurgie wird alle Mühe darauf verwendet, einerseits Gliedmaßenlängen zu erhalten und andererseits gut prothesentaugliche Amputationsstümpfe zu schaffen, um damit so viel Funktion wie möglich zu erhalten. Gliedmaßenstümpfe sind daher a priori nicht als funktionslos anzusehen. Wie man sich im Internet überzeugen kann, ist z.B. auch Autofahren selbstverständlich mit einer derartigen Prothese möglich. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass der Stumpf vollständig und sehr gut verheilt ist und die Prothese optimal und perfekt angepasst sitzt. Zudem muss natürlich die Reaktionszeit und die mit der Prothese umsetzbare Kraft ausreichend sein. Wenn man den technischen Fortschritt bei Beinprothesen mit einem computergesteuerten Kniegelenk (sogenannte C-Leg) berücksichtigt, ist eine Minderung lediglich um 10% des Beinwerts ohnehin als eher gering anzusehen. Aus den Medien ist bekannt, dass Läufer sogar mit zwei derartigen Beinprothesen beachtliche sportliche Leistungen vollbringen können. Die Kosten eines derartigen High-Tech-Produkts betragen relativ beachtliche 50.000 Euro, die unter gewissen Umständen aber sogar vom Sozialversicherungsträger bezahlt werden. Die Verwendung eines C-Leg ist allerdings nur möglich, wenn ein nicht allzu kleiner Beinstumpf verbleibt. Letztendlich ist das alles aber eine medizinische Frage.
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Titelbild: ©Studio_East – stock.adobe.com
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