Versicherungen lassen sich nicht gerne in die Karten schauen und legen daher nicht alle Gründe, die zur Leistungsfreiheit führen können, sofort auf den Tisch. Dass man dabei auch übertreiben kann, zeigt die Entscheidung OGH 7 Ob 190/22z vom 25.01.2023.
Artikel von:
Dr. Wolfgang Reisinger
Lektor WU Wien und der Donau-Universität Krems
2019 erlitt der Versicherungsnehmer (VN) infolge eines Sturzes so schwere Verletzungen, dass eine dauernde Invalidität von 100% vorliegt. Der VN wurde nach dem Unfall von zwei Ärzten des Versicherers über dessen Auftrag untersucht. Ein Arzt erachtete beim VN eine Invalidität von 100% für gegeben. Der andere Arzt kam zum Ergebnis, dass die Mitwirkung nicht unfallkausaler Einflüsse mindestens 50% betragen habe. Weder die vom Versicherer beauftragten Ärzte noch der Versicherer selbst forderten vom VN vorprozessual die Vorlage ergänzender Unterlagen. Der Versicherer bezahlte rund 54.000 Euro auf Basis einer 50%igen Funktionseinschränkung. Erstmals während des Verfahrens forderte der Versicherer vom VN, er möge die Krankengeschichte vollständig seit dem 01.01.2007 vorlegen. Der VN ist dieser Forderung nicht nachgekommen. Der Versicherer argumentierte, dass er wegen Verletzung der Auskunftsobliegenheit leistungsfrei sei.
Entscheidungsgründe
Die Auskunftsobliegenheit endet mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruches durch den Versicherer, weil sich das der Vereinbarung zugrunde liegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lässt. Dies gilt freilich nicht, wenn der Versicherer nach der Ablehnung zu erkennen gibt, er lege gleichwohl noch Wert auf die Erfüllung der Obliegenheit, und dies zumutbar erscheint. Das setzt aber jedenfalls voraus, dass der Versicherer klar macht, inwieweit er noch ein Aufklärungsbedürfnis hat. Allerdings hat die Beklagte ein derartiges Aufklärungsbedürfnis nicht dargelegt. Sie hielt es nach Einholung der Privatgutachten nicht für notwendig, ergänzende Unterlagen zu fordern, obwohl sich die Sachlage seither nicht geändert hat.
Kommentar
Grundsätzlich können Obliegenheitsverletzungen auch im Deckungsprozess geltend gemacht werden. Der Versicherer ist nicht gezwungen, alle Argumente dem VN vorprozessual darzulegen. Vielfach ist es taktisch besser, erst im Deckungsprozess zu argumentieren in der Hoffnung, dem Rechtsanwalt des VN Spielraum zu nehmen. Offenbar ist hier dem Versicherer vor der Klage des VN nicht eingefallen, die Krankengeschichte zu verlangen, um den Grad der Vorinvalidität verlässlich einschätzen zu können. Die erste Instanz war der Ansicht, dass den VN deshalb keine Obliegenheitsverletzung trifft, weil der gerichtlich bestellte Sachverständige es ebenfalls nicht für notwendig empfunden hat, Krankengeschichten beizuholen. Dies kann so allerdings nicht stimmen, weil der Gerichtssachverständige dem Versicherer nicht zuzurechnen ist. Anders ist es natürlich bei den vom Versicherer vorprozessual bestellten Sachverständigen, die die Vorlage von ergänzenden Krankengeschichten auch nicht für notwendig erachtet haben. Die Entscheidung ist aber kein Freibrief für VN, weil sich mitunter erst im Deckungsprozess herausstellt, dass weitere leistungsbefreiende Umstände vorliegen. Die Karten werden im erstinstanzlichen Verfahren gemischt. Was hier an Tatsachenvorbringen verabsäumt wird – egal ob vom Versicherer oder vom VN – kann im Rechtsmittelverfahren nicht mehr nachgeholt werden.
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