Berufsunfähigkeitsversicherungen sind ein probates Mittel, die finanziellen Folgen von Krankheiten oder Unfällen zu mildern. Obwohl sie meist mit einer Lebensversicherung kombiniert werden, ist der Konnex zu einer Unfallversicherung ebenfalls sehr sinnvoll, wie die Entscheidung OGH 7 Ob 103/22f vom 24.08.2022 zeigt.
Artikel von:
Dr. Wolfgang Reisinger
Lektor WU Wien und der Donau-Universität Krems
Der VN war in einem Ziviltechnikerbüro berufstätig und erlitt am 15.11.2014 einen Unfall, indem er bei Renovierungsarbeiten 1,5 m in die Tiefe stürzte und mit dem Kopf auf dem Boden aufprallte. Der VN erlitt bei dem Sturz eine an sich sehr schwere und organische Schädigung des Schädels, der inneren Hirnhäute, der Hirnnerven und der Gefäße des Gehirns. Darüber hinaus erlitt er einen kompletten Verlust des Geruchssinns und einen Hörverlust auf Lebenszeit am linken Ohr im Ausmaß von 34%. Nach den AVB zahlt der Versicherer 100% der Invaliditätssumme, wenn der Versicherte infolge des Unfalles voraussichtlich auf Lebenszeit mehr als 50% außer Stande ist, seinen zum Zeitpunkt des Unfalls ausgeübten Beruf auszuüben. Der Versicherer anerkannte den Verlust des Geruchssinns und die Abgeltung für die Funktionsminderung am linken Ohr, bestritt aber das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit. Die erste Instanz gab dem Klagebegehren des VN statt, Berufungsgericht und OGH waren sich aber nicht ganz sicher und hoben das Urteil auf.
Entscheidungsgründe
Kann die versicherte Person eine bestimmte, zu ihrem Beruf zählende und ihn prägende Tätigkeit überhaupt nicht ausüben, so ist sie vollständig berufsunfähig auch dann, wenn diese Anforderungen im beruflichen Alltag zeitlich nur einen geringen Umfang haben oder gar nicht täglich anfallen, wohl aber notwendigerweise mit ihm verbunden sind. Sind nur einzelne Verrichtungen nicht mehr möglich, darf dann nicht ausschließlich auf deren Zeitanteil abgestellt werden, wenn sie nichtabtrennbare Teile eines Gesamtvorgangs der Arbeit sind. Macht ohne die nicht mehr ausübbare Tätigkeit die Arbeit keinen Sinn, führt sie also nicht zu einem sinnvollen Arbeitsergebnis, liegt vollständige Berufsunfähigkeit unabhängig davon vor, welchen Zeitanteil sie angenommen hat. Dies gilt selbst dann, wenn der nicht mehr ausübbare Teil des Berufs nur in extrem seltenen Fällen ausgeübt werden muss. Der Grad der Berufsunfähigkeit kann aus einem (quantitativen) Herabsinken der beruflichen Leistungsfähigkeit aber auch daraus erfolgen, dass der VN prägende wesentliche Einzelverrichtungen seiner Tätigkeit nicht mehr ausüben kann.
Kommentar
Der OGH stellt sehr schön, aber notwendigerweise abstrakt fest, unter welchen Voraussetzungen eine mehr als 50%ige Berufsunfähigkeit gegeben ist. Die Besonderheit im vorliegenden Fall ist dadurch gegeben, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung quasi ein „Anhängsel“ zu einer Unfallversicherung ist, weshalb die Ursache der Berufsunfähigkeit nur ein Unfall, nicht aber etwa eine Krankheit oder ein Gebrechen sein kann. Dies ändert aber nichts am Wesen der Berufsunfähigkeitsversicherung als Summenversicherung, das heißt, ein konkreter Verdienstentgang ist für eine Leistung nicht erforderlich. Sowohl Berufungsgericht als auch OGH stellen überdies fest, dass der VN in einem Fall der Berufsunfähigkeit neben der (vollen) Versicherungssumme nicht auch noch eine Invaliditätsentschädigung nach der Gliedertaxe begehren kann. Da das Erstgericht wesentliche Feststellungen über die Tätigkeit des VN unterlassen hat, musste die Entscheidung aufgehoben werden. Dem zweiten Rechtsgang kann daher mit Interesse entgegengesehen werden.
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