Im vorigen Teil wurde gezeigt, dass die Anspruchsobergrenze (AOG) im betrieblichen AVRS einen bausteinspezifischen Risikoausschluss darstellt, dessen Überschreitung grundsätzlich (d.h. ohne zusätzliche Vereinbarung) zum vollständigen Verlust der Leistungspflicht des Rechtsschutz-Versicherers führt. Bei Vereinbarung einer AOG ist zudem nicht der konkrete Streitwert einer rechtlichen Auseinandersetzung bzw. eines Prozesses das entscheidende Element; die Grenze bilden die sog. Gesamtansprüche der Vertragsparteien, soweit diese auf einen Versicherungsfall zurückzuführen sind. Im abschließenden Teil sollen neben einigen Fallbeispielen aus der Praxis weitere Besonderheiten im Überblick beschrieben werden.
Artikel von:
Prof. Mag. Erwin Gisch, MBA
Fachverbandsgeschäftsführer der Versicherungsmakler und Lektor an der Donau Uni Krems, WU-Wien und Juridicum Wien
1. Beispiele zur Anspruchsobergrenze aus der Fallpraxis des OGH und der RSS
Die OGH-E 7 Ob 176/15y betraf eine Zusammenrechnung von Forderungen nach einer behaupteten Fehlberatung durch eine Versicherungsmaklerin i.Z.m. der Vermittlung einer Betriebsbündelversicherung.
Die RSS-Causa RSS-E 51/17 betraf eine Zahlung von € 8.000,-- aus insgesamt zehn Darlehensverträgen, die binnen kurzer Zeit gewährt worden sind. Auch hier wude letztlich – unter Zugrundelegung dessen, dass die Darlehensbeträge einem einheitlichen wirtschaftlichen Zweck, konkret der Aufrechterhaltung des Betriebes der VN, gedient haben – von einer Zusammenrechnung ausgegangen.
OGH 7 Ob 134/21p (= versdb 2021, 50): Die behauptete Überzahlung (hier konkret: zu viel bezahlter Werklohn durch den VN) mag zwar in dem zu deckenden Verfahren nur einen (Schuldtilgungs-)Einwand darstellen, die Behauptungen des VN begründen aber – wovon er selbst ausgeht – einen gesondert klagbaren bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruch nach § 1431 ABGB wegen (teilweiser) Zahlung einer Nichtschuld (eine Forderung, auf die der VN auch nicht verzichtet hat). Der vom VN dargestellte Rückforderungsanspruch nach § 1431 ABGB ist bei der Ermittlung der Streitwertobergrenze zu berücksichtigen. Der im Wege einer eigenen (Wider-)Klage geltend zu machende bereicherungsrechtliche Rückforderungsanspruch stellt keinen gesonderten Versicherungsfall dar.
OGH 7 Ob 55/22h (= versdb 2022, 62): Aus fünf verschiedenen Verträgen (hier konkret: über fünf Reihenhaus-Objekte) mit unterschiedlichen Parteien resultieren verschiedene vertragliche Verpflichtungen des VN. Der jeweils von den Klägern (gegen den VN) des Anlassprozesses behauptete Pflichtverstoß des VN kann immer nur anhand des jeweiligen Schuldverhältnisses beurteilt werden. Dass einzelne behauptete Pflichtverletzungen (wie hier konkret etwa hinsichtlich des Daches und Carports) sich faktisch auf mehrere Verträge auswirken, führt nicht dazu, dass es sich um einen einheitlichen Versicherungsfall handelt. Es liegt gerade kein einheitlicher Verstoß vor, sondern die (wenn auch teilweise gleiche) Pflichtenlage ergibt sich aus den fünf unterschiedlichen Verträgen (mit fünf verschiedenen Vertragspartnern). Dementsprechend ist vom Vorliegen mehrerer Versicherungsfälle auszugehen und es ist für jeden einzelnen Vertrag zu ermitteln, ob die Gesamtansprüche aus jedem Vertrag für sich die mit dem VN vereinbarte Anspruchsobergrenze übersteigen oder nicht.
2. Weitere ausgewählte Besonderheiten innerhalb der „Besonderheit AOG“
a. Was gilt, wenn die Gesamtansprüche steigen oder sinken …
Die im Rahmen des AVRS vom VN oder gegen ihn erhobenen Ansprüche müssen nicht dauerhaft gleich hoch bleiben; sie können bisweilen Schwankungen unterliegen – somit steigen oder sinken. Sinken können sie beispielsweise in Folge eines Teilanerkenntnisses, in Folge eines Verzichts auf einen Teil der Forderung oder etwa in Folge des Abschlusses eines Vergleichs über einen Teil der Ansprüche. Umgekehrt können Ansprüche durchaus auch steigen, indem etwa – basierend auf demselben Versicherungsfall – weitere Forderungen hinzukommen. Damit stellt sich die Frage, wie sich ein derartiges Steigen und/oder Sinken der Gesamtansprüche auf den Versicherungsschutz auswirkt.
Der OGH hat zur GZ 7 Ob 34/15y (zu den ARB 1988 !) entschieden, dass ein nachträgliches Herabsinken des Gesamtanspruches unter die vereinbarte Grenze – hier auf Grund einer Klagseinschränkung in dem zu deckenden Verfahren – zu einer Versicherungsdeckung ab diesem Zeitpunkt führt. Dies scheint auch sachgerecht zu sein, denn infolge der Klagseinschränkung und der ab diesem Zeitpunkt gesunkenen Gesamtansprüche wurde die bei Vertragsabschluss gewollte Risiko-Prämien-Äquivalanz wieder hergestellt.
Aber Vorsicht (!): Für jüngere ARB gilt dies i.d.R. nicht mehr. Seit den (Muster-)ARB 1994 werden regelmäßig spezielle Regelungen für das Steigen oder das Sinken der Gesamtansprüche getroffen, nach denen folgendes gilt:
Steigen die Gesamtansprüche nach Bestätigung des Versicherungsschutzes über die vereinbarte Grenze, entfällt ab diesem Zeitpunkt der Versicherungsschutz – soweit, so gut …
Sinken die Gesamtansprüche unter die vereinbarte Grenze, dann wird der Versicherungsschutz jedoch (anders als nach den ARB 1988 im Verfahren OGH 7 Ob 34/15y) nicht automatisch wiedererlangt, sondern nur dann, wenn der Fall noch nicht gerichtsanhängig ist. Mit anderen Worten:
- Sinken die Gesamtansprüche noch im vorgerichtlichen Stadium, erlangt der Versicherungsnehmer wieder Versicherungsschutz;
- Sinken die Ansprüche aber nach Gerichtsanhängigkeit, weil die Gegenseite z.B. einen Teil der Forderung vor Gericht (und nicht schon vorgerichtlich) anerkennt, erlangt der VN keinen Versicherungsschutz mehr. Fazit: Ist die AOG im gerichtlichen Verfahren erst einmal überschritten, bekommt der VN für dieses Verfahren nie mehr Versicherungsschutz, mögen die Ansprüche im Laufe des Verfahrens auch gegen null sinken.
Diese Regelung kann aus meiner Sicht kaum als sachgerecht bezeichnet werden, negiert sie doch die Risiko-Prämien-Äquivalenz, die mit der Vereinbarung einer Anspruchsobergrenze eingegangen wer- den soll, zur Gänze. Es ist also wenig verwunderlich, dass in der Literatur dazu kritische Stimmen vernommen werden können; eine OGH-Entscheidung zu dieser Regelung steht bis dato jedoch noch aus …
b. Was gilt, wenn Gegenforderungen bestehen und/oder vorgebracht werden?
Oftmals wird (nach dem Vorbild der Muster-ARB) vereinbart, dass aufrechnungsweise geltend gemachte Forderungen des Gegners für die Berechnung der Gesamtansprüche berücksichtigt werden, sofern und sobald sie der Höhe nach konkret beziffert sind.
Dazu ist zunächst anzumerken, dass auch für die Einbeziehung von Gegenforderungen in die Berechnung der Gesamtansprüche zu gelten hat, dass Forderungen und Gegenforderungen aus einem einzigen bzw. einheitlichen Versicherungsfall resultieren müssen. Für die Praxis gilt dies daher stets zu prüfen; resultiert die Gegenforderung aus einem anderen Versicherungsfall, darf nicht zusammengerechnet werden.
Weiters ist ganz grundsätzlich festzuhalten, dass eine derartige Regelung eine praxistaugliche Einschätzung der zu versichernden Gesamtansprüche im Rahmen des Vertragsabschlusses für den Firmenkunden (und den vermittelnden Makler) noch schwieriger macht und zudem die Gefahr steigt, dass bloße prozesstaktisch erhobene (inhaltlich jedoch gänzlich substanzlose) Gegenforderungen den VN um den Versicherungsschutz bringen.
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