Die klassische Lebensversicherung ist alles andere als tot, meint Prof. Dr. Jochen Ruß, Geschäftsführer des Instituts für Finanz- und Aktuarwissenschaften. Denn seine wichtigsten Leistungen könne ein Lebensversicherer auch in einer Welt ohne Zinsen erbringen. Die große Herausforderung liege darin, dass der Berater dem Kunden seinen tatsächlichen Bedarf bewusst macht.
Redakteur/in: Mag. Peter Kalab - Veröffentlicht am 29.08.2017
These 1: Fast alles, was ein Lebensversicherer macht, funktioniert grundsätzlich auch ohne Zinsen. Vieles davon kann auch nur ein Lebensversicherer leisten.
Das Einzige, was ein Lebensversicherer heute nicht mehr anbieten könne, sei die garantierte Geldvermehrung (siehe Grafik unten). „Leider ist das oft genau das, was der Kunde will“, so Ruß, „obwohl extrem hohe Garantien selten bedarfsgerecht sind, da sie eine starke Reduktion der erwarteten Rendite bewirken“. Alle anderen Leistungen seien auch ohne Zinsen möglich. „Vieles davon – insbesondere die Absicherung biometrischer Risiken – kann auch nur ein Lebensversicherer. Banken und Fondsgesellschaften dürfen solche Leistungen nicht erbringen.“
Die große Herausforderung liege daher nicht in den Niedrigzinsen, sondern im Unterschied zwischen Kundenwunsch und Kundenbedarf. „Obwohl die Leistungen in vielen Fällen bedarfsgerecht sind, haben die Kunden den Bedarf noch nicht erkannt.“ Damit stehe auch der Vermittler vor neuen Aufgaben: „Ein reiner Verkäufer wird hier scheitern. Es ist vielmehr ein guter Berater gefragt, der dem Kunden zuerst den Bedarf erläutern kann und dann die Lösung anbietet.“
These 2: Die Versicherer verabschieden sich nicht von der Klassik
Die derzeitigen Probleme der Lebensversicherer ergaben sich daraus, dass diese in der Vergangenheit ihr Grundsystem der kollektiven Kapitalanlage mit – aus heutiger Sicht – zu hohen Garantien kombinierten. Ruß erwartet, dass dieses System künftig mit anderen Garantiezusagen kombiniert oder als „Baustein“ für chancenreichere Garantieprodukte dienen wird.
„Wenn in der Presse zu lesen ist, dass sich ein Versicherer „von der Klassik verabschiedet“, steckt dahinter in Wirklichkeit oft entweder ein Redesign der Klassik oder der Fokus auf ein Produkt, das die Klassik als Baustein benutzt.“ Beispielhaft nennt Ruß Produkte, die niedrigere Garantien und zum Ausgleich ein höheres Chancenpotenzial anbieten als eine reine Klassik, indem sie klassische Bausteine mit fondsgebundenen Bausteinen kombinieren.
These 3: Hauptaufgabe der Lebensversicherung muss künftig die Garantie eines lebenslangen Einkommens sein
„Das Risiko, länger zu leben als das angesparte Geld reicht, ist eines der am meisten unterschätzten Risiken in unserer Gesellschaft.“ Die Akzeptanz von lebenslangen Renten sei in der Bevölkerung aber dennoch „extrem gering“. Hier sei Aufklärung erforderlich, vor allem bezüglich gängiger Irrtümer. So werde die steigende Lebenserwartung massiv unterschätzt – diese steigt nämlich jedes Jahrzehnt um etwa 2,5 Jahre, also um etwa 7,5 Jahre pro Generation. Statistisch gesehen erlebt eine heute 50-jährige Frau (deren Lebenserwartung „nur“ 86 Jahre beträgt) den 95. Geburtstag mit einer Wahrscheinlichkeit von über 17%.
These 4: Sicherheit und Garantie ist nicht dasselbe
Die meisten Menschen setzen Sicherheit mit nomineller Kapitalgarantie gleich. „Sicherheit und Garantie ist aber nicht dasselbe: Einerseits kann man durch geeignete Kapitalanlagestrategien ein gewisses Maß an Sicherheit auch ohne Garantien erzeugen.“ Umgekehrt könne eine Garantie, die einen Betrag zu einem bestimmten Zeitpunkt garantiert, die Sicherheit bezüglich der „Kaufkraft der lebenslangen Rente“ sogar reduzieren. Eine geringere Kapitalgarantie würde die Chance auf eine höhere Kaufkraft der Rente steigern. „Produkte mit geringeren Garantien und höheren Renditechancen sind daher für viele Kunden sinnvoll“, so Ruß. „Es wird aber voraussichtlich sehr schwierig, dieses Umdenken in den Köpfen von Beratern und Kunden zu verankern.“
„Versicherungsbranche braucht einen Paradigmenwechsel“
Fazit: „Die Klassik wird zwar weiterhin eine Rolle spielen – aber primär als Produktbaustein.“ Durch dieses Misch-Verhältnis können Produkte mit unterschiedlichen Garantiehöhen angeboten werden. „Am wichtigsten aber ist, dass die Versicherungsbranche einen Paradigmenwechsel braucht: weg vom reinen Sparen für das Alter und hin zur Absicherung eines lebenslangen Einkommens.“
Der gesamte Artikel erscheint in der AssCompact September-Ausgabe.
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