Versicherungen beruhen auf Wahrscheinlichkeiten, doch was, wenn künstliche Intelligenz diese bis ins kleinste Detail kalkulieren kann? Welche Rolle spielt das klassische Versicherungsprinzip, wenn Risiken minimiert und immer präziser vorhergesagt werden? Prof. Dr. Stefan Heinemann, Wirtschaftsethiker und KI-Experte, stellte in seiner Keynote beim Insurance Forum Austria 2025 die provokante Frage: "Was versichern wir in Zukunft noch, wenn KI Risiken reduziert?" Seine Antwort: Die Branche muss sich radikal wandeln, um relevant zu bleiben.

Redakteur/in: Andreas Richter - Veröffentlicht am 21.03.2025
Heinemann startete mit einer fundamentalen Reflexion über die Ursprünge der Versicherungswirtschaft. Dabei verwies er auf Frank H. Knight und dessen Werk Risk, Uncertainty and Profit aus dem Jahr 1916. "Knight hat damals bereits erkannt, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Risiko und Ungewissheit gibt. Versicherer arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten, doch was passiert, wenn KI diese nahezu perfekt berechnen kann?"
Die Versicherungswirtschaft basiert darauf, Risiken zu kalkulieren und entsprechende Prämien zu erheben. Doch mit der exponentiellen Entwicklung der KI und deren wachsenden Möglichkeiten, Muster zu erkennen und Schadenswahrscheinlichkeiten zu minimieren, könnte das klassische Geschäftsmodell ins Wanken geraten. "Die Frage ist nicht mehr, ob KI die Versicherungsbranche verändert, sondern wie radikal dieser Wandel sein wird", so Heinemann.
Prävention statt Schadensregulierung: Ein Paradigmenwechsel?
Eine der zentralen Thesen des Experten lautet: Versicherungen müssen sich von der reinen Schadensregulierung hin zur aktiven Prävention entwickeln. "Wenn Risiken immer präziser vorhergesagt werden können, liegt der eigentliche Mehrwert nicht mehr in der Absicherung gegen Schäden, sondern in deren Vermeidung." Er verweist auf erste Entwicklungen in Skandinavien und den USA, wo Versicherer verstärkt auf Dienstleistungen zur Risikominimierung setzen, etwa durch IoT-gesteuerte Überwachungssysteme für Haushalte oder verhaltensbasierte Versicherungsmodelle im Gesundheitsbereich.
Daraus ergibt sich eine spannende Frage: Wird die Versicherung der Zukunft weniger ein Schadensregulierer und mehr ein Risiko-Coach für Kunden? "Wenn wir nicht nur für Schäden zahlen, sondern helfen, sie zu vermeiden, entsteht eine völlig neue Dimension der Kundenbeziehung", prognostiziert Heinemann.
Hyperpersonalisierung: Die Versicherung als Echtzeit-Produkt
Neben der Prävention wird auch die Dynamik der Versicherungsprodukte revolutioniert. "Statische Polizzen haben ausgedient. Zukünftig werden Versicherungen hyperpersonalisiert, dynamisch anpassbar und nahezu in Echtzeit berechnet." Bereits heute experimentieren Versicherer mit Pay-as-you-drive-Modellen in der Kfz-Versicherung oder gesundheitsabhängigen Polizzen. Doch Heinemann geht noch weiter: "Warum sollte ein Kunde künftig noch ein standardisiertes Produkt kaufen, wenn er eine auf seine aktuellen Lebensumstände perfekt zugeschnittene Absicherung in Echtzeit erhalten kann?" Möglich wird das durch KI-gestützte Datenanalysen und automatisierte Polizzen-Anpassungen.
Automatisierung: Welche Rolle spielt der Mensch noch?
Eine der drängendsten Fragen, die sich aus dieser Entwicklung ergibt: Was bedeutet das für die Mitarbeiter der Branche? Heinemann zeichnet ein klares Bild: "Viele administrative und standardisierte Prozesse werden vollständig automatisiert. Wir erleben gerade, wie KI in der Lage ist, Standardprozesse mit hoher Effizienz zu übernehmen. Doch das bedeutet nicht, dass der Mensch überflüssig wird – im Gegenteil." Die wahre Herausforderung liege darin, den menschlichen Mehrwert neu zu definieren. "Persönliche Beratung, komplexe Schadenregulierung und emotionale Intelligenz sind Bereiche, die KI so schnell nicht ersetzen kann. Kunden werden künftig vielleicht eine KI-gestützte Versicherungsberatung erleben – doch am Ende wird es das menschliche Vertrauen sein, das den Unterschied macht."
Neue Herausforderungen, neue Antworten
Heinemann schloss mit einem klaren Appell an die Branche: "Versicherer, die jetzt nicht handeln, werden in wenigen Jahren von der Entwicklung überrollt. Die Transformation ist keine theoretische Zukunftsdebatte mehr, sondern findet hier und jetzt statt." Ob durch Prävention, Hyperpersonalisierung oder Automatisierung – die künstliche Intelligenz verändert das Versicherungsgeschäft grundlegend. Wer diese Veränderung aktiv mitgestaltet, kann von den neuen Möglichkeiten profitieren. Wer sich verweigert, riskiert den Anschluss.
Sein Fazit war daher eindeutig: "Künstliche Intelligenz wird das Risiko nicht abschaffen. Aber sie wird bestimmen, wie wir es versichern."
Einen allgemeinen Beitrag zur IFA 2025 finden Sie hier ...
Foto oben: Prof. Dr. Stefan Heinemann, Wirtschaftsethiker und KI-Experte
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